Gedenken in Hörsten: Den Nazis entgegentreten – Frieden mit Russland
Von Alfred Hartung
Erschwert durch die behördlichen Auflagen gegen die in Niedersachsen heftig grassierende Pandemie hat die niedersächsische VVN-BdA am 18. April der Befreiung des KZ Bergen-Belsen und der sowjetischen Kriegsgefangenen gedacht. Die Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten hatte deswegen wie schon im letzten Jahr auf die öffentliche Befreiungsfeier für das KZ verzichtet.
Mit ca 150 Teilnehmer*innen waren deutlich mehr Besucher*innen als üblich der Einladung der VVN-BdA und der DGB Region Nord-Ost-Niedersachsen auf dem Sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhof Hörsten gefolgt. Dort liegen mindestens 20.000 junge Sowjetsoldaten, von denen tausende bereits im ersten Winter nach dem Überfall auf die Sowjetunion unter schrecklichen Bedingungen – Hunger, Kälte, Misshandlungen – auf dem Gelände des späteren KZ umgekommen sind. Nur das Jahrzehnte lange Bemühen der VVN-BdA hat verhindert, dass ihr Schicksal hinter den Verbrechen im späteren KZ ab 1943 – hier starb z.B. Anne Frank – dem gewollten Vergessen anheimgefallen ist.
Rolf Becker als Überraschungsgast
Die Sprecherin der VVN-BdA Niedersachsen, Mechthild Hartung, konnte zahlreiche Redner*innen begrüßen. Als „Überraschungsgast“ war der Schauspieler und Rezitator Rolf Becker aus Hamburg gekommen. In einem bewegenden Grußwort überbrachte er nicht nur die persönlichen Grüße von Esther Bejarano, Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, die wegen der Pandemie auf eine physische Teilnahme verzichten musste, sondern warnte eindrücklich vor den Gefahren eines neuen Krieges. Der könne sich wie schon zweimal aus der sich ständig steigernden Propaganda gegen Russland entwickeln und würde bei uns in Mitteleuropa ausgetragen.
Im Anschluss trug die Kameradin Evi Wefer-Kameli Esthers Grußwort vor, das sie der VVN-BdA bereits vorab zugesandt hatte. Sie nannte es darin unerträglich für die Überlebenden, „wenn wieder Naziparolen gebrüllt und Synagogen angegriffen werden, Todeslisten kursieren und Rechtsextreme in den Parlamenten sitzen“.
Belarussische Opfer der Naziokkupation
Zu einem weiteren Grußwort konnte Mechthild Hartung den Vertreter der Botschaft Belarus, Pavel Groshevik, 2. Botschaftssekretär, begrüßen. Der Diplomat hob besonders die ungeheuren Opfer des belarussischen Volkes unter der Naziokkupation hervor. Ein Drittel der Menschen wurden von den Faschisten umgebracht und die Hälfte aller Städte und Dörfer zerstört. Der Hass auf den Krieg und die Sehnsucht nach Frieden seien seit damals ins belarussische Gedächtnis eingeschrieben.
Verständigung mit Russland
Der Hauptredner Rainer Butenschön, Journalist und Mitherausgeber von „Ossietzky, machte die notwendige Verständigung mit Russland zum Schwerpunkt seiner Ausführungen. In Anknüpfung an Rolf Becker verurteilte er die kampagnenhaften, öfters geradezu primitiven Verurteilungen Russlands. Vor dem Hintergrund der hier und auf den weiteren „Heide“-Gräberfeldern liegenden tausenden junger Sowjetsoldaten nannte er es beschämend, wenn die deutsche Kriegsministerin mit Russland nur „von einer Position der Stärke aus“ verhandeln wolle. Die Schuld, die Deutschland mit dem Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auf sich geladen hat, verlange völlig andere, ehrliche Verhandlungsbemühungen. Gerade mache das der sich zuspitzende Konflikt um den Donbass nötiger denn je.
Als Journalist schmerze es ihn persönlich, wie sich der Großteil der Medien für die Regierungspropaganda einspannen lasse. Wo bleibe der Aufschrei in der Presse, wenn der russische Staatschef Putin regelmäßig mit „Hitlerbärtchen“ karikiert werde? Einen israelischen Staatschef so darzustellen, sei zu Recht undenkbar. Aber den Vertreter des russischen Volkes, das 27 Millionen Kriegstote zu beklagen habe, könne anscheinend ständig mit Fußtritten beleidigt werden. Er forderte alle Anwesenden auf, für den Frieden und für Verständigung mit Russland einzutreten. Denn, und hier nahm er Rolf Beckers Warnung auf, der nächste Krieg fände „bei uns“ statt.
Als Vertreter des DGB N-O-Niedersachsen erinnerte Joachim Fährmann, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Celle-Lüneburg, daran, dass die jungen sowjetischen Soldaten, die hier liegen, sicher auch hoffnungsvolle Pläne für ihr späteres Leben hatten. Ihm sei aber bei Besuchen in vielen Gedenkstätten aufgefallen, dass dazu im Gegensatz zu anderen Opfern überall geschwiegen werde.
„Dorfnazis“ in Gemeinderäten
H.-D. Charly Braun, DGB Kreisverbandsvorsitzender Heidekreis, konnte mit konkreten Beispielen von neofaschistischen Aktivitäten in dem die Gedenkstätte umgebenden Heidekreis von seiner Jugendzeit bis heute den ungebrochenen „braunen Geist“ der Region konkretisieren. Es war nicht unüblich, dass der „Dorfnazi“ bruchlos in die Gemeinderäte integriert wurde. Und bis heute fühlen sich in vielen Dörfern „braune Geister“ durchaus aufgehoben. Zu dieser Stimmung unter der hiesigen Bevölkerung trägt auch die seit der Nazizeit jahrzehntelange Militarisierung bei, die vom „größten Truppenübungsplatz Europas“ ausgeht. Dagegen setzt die Initiative „Biosphärenreservat Heide“ die Forderung nach ziviler Nutzung. Der Abzug der britischen Armee vor einigen Jahren hätte dafür ein erster Schritt sein können. Da er bisher nicht gegangen wurde, sei weitere Friedensarbeitsarbeit weiter dringend nötig.
Junge und Neumitglieder
Besonders erfreulich war auch auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung die Beteiligung zahlreicher junger Menschen. Die SJD-Die Falken aus Wolfsburg verlasen beispielhaft die Namen von 40 Rotarmisten, die allein am 21. Januar 1942 hier an diesem Ort gestorben sind. „Die meisten davon waren genauso alt wie ich“, so der junge Falke nachdenklich. Seiner engagierten Rede nahm den Slogan ihres Transparentes „Erinnern heißt Kämpfen“ wunderbar aufnahm und machte Mut. Denn sie zeigte, dass auch die junge Generation den Kampf um die Erinnerung aufnimmt.
Ein abschließender Höhepunkt war die Entgegennahme ihrer Mitgliedsbücher durch 32 neue Kamerad*innen, die zusammen mit 176 weiteren Menschen aus Niedersachsen seit dem Angriff auf die VVN-BdA durch Aberkennung der Gemeinnüzigkeit unserer Organisation beigetreten sind. Das macht Mut! Sehr zum Gelingen der Gedenkveranstaltung haben auch in diesem Jahr die musikalischen Beiträge von „Agitprop Hannover“ beigetragen. Mit deutschen und russischen Antifa-Liedern sorgten sie für eine wunderbare Stimmung.
Fotos von: Jankowskis, Nolte, Scharna, Springhorn, Weismann-Kieser.