In einem Brief „An den Kongreß für kulturelle Freiheit“ schreibt Brecht:
„An den Kongreß für kulturelle Freiheit
Die Freiheit, sein Leben zu verbessern – das Wort ‚Leben‘ im einfachsten Sinne verstanden -, ist die elementarste aller Freiheiten des Menschen. Von ihr hängt die Entwicklung der Kultur ab, und es hat keinen Sinn, über Freiheit und Kultur zu sprechen, wenn nicht diese Freiheit, das Leben zu verbessern, besprochen wird.
Die erste Bedingung eines besseren Lebens ist … der Friede, die Sicherheit des Friedens.
Lassen Sie uns doch alle gesellschaftlichen Systeme, an die wir denken mögen zu allererst daraufhin untersuchen, ob sie ohne Krieg auskommen.
Lassen Sie uns zuallererst um die Freiheit kämpfen, Frieden verlangen zu dürfen.
Sage keiner: Erst müssen wir darüber sprechen, was für ein Friede es sein soll. Sage jeder: Erst soll es Friede sein.
Dulden wir da keine Ausflucht, scheuen wir da nicht den Vorwurf, primitiv zu sein! Seien wir einfach für den Frieden!
Diffamieren wir alle Regierungen, die den Krieg nicht diffamieren!
Erlauben wir nicht, daß über die Zukunft der Kultur die Atombombe entscheidet!
Man hat gesagt, die Freiheit entsteht dadurch, daß man sie sich nimmt. Nehmen wir uns also zu allererst die Freiheit, für den Frieden zu arbeiten!“
Quelle: BB, Gesammelte Werke 20, Schriften zur Politik und Gesellschaft, S. 315 f.
Wir dokumentieren im Folgenden die Rede von Werner Hensel auf dem braunschweiger Hauptfriedhof
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Friedensfreunde,
unser heutiges Erinnern an den 81. Jahrestag des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion wird natürlich vom Krieg Russlands gegen die Ukraine beeinflusst.
Auf diesem Friedhof liegen Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den beiden Ländern, die heute Krieg gegeneinander führen. Das ist Stoff für eine Tragödie. Auch in deren Interesse fordern wir, dass die Kampfhandlungen sofort beendet werden müssen, „Verhandeln statt Schießen“!
Dieser Krieg hat nicht nur das Leben der direkt Kriegsbeteiligten in der Ukraine und Russland verändert. Es ist viel politisch ins Rutschen gekommen. Inflationär ist die Verwendung der Begriffe „Vernichtungskrieg“, „Faschismus“, „Völkermord“. In fast allen Medien wird nur noch die Sprache des Krieges gepflegt, in militärischen Kategorien argumentiert.
Fast alle in Regierungsverantwortung stehenden Politikerinnen und Politiker verschärfen die Kriegsrhetorik. Statt Diplomatie werden Waffenlieferungen beschlossen, beklagt eine deutsche Außenministerin „Kriegsmüdigkeit“, wird für einen Krieg bis zum Sieg geworben – wer dafür stirbt, was die Folgen für die Völker und die Klimakrise sind, scheint nicht mehr zu interessieren.
Wie in allen Kriegszeiten wird der Gegner hemmungslos verteufelt: alles russische, ob russische Literatur, Musik, russischer Sport, russisches Ballett – alles wird mit „Putins Öl und Gas“ gleichgesetzt. Wer für Diplomatie statt Waffenlieferungen ist, wird als Putin-Versteher, als „fünfte Kolonne des Kremls“ diffamiert.
Es ist zum Verzweifeln.
„Und doch wird nichts mich davon überzeugen,
dass es aussichtslos ist,
der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen.“
schrieb es Bertolt Brecht in einer ähnlichen Lage.
Oder mit anderen Worten: Trotz alledem!
Für uns gibt es keine Alternative zu „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“
Wir erinnern heute – wie seit vielen Jahren am 22. Juni – an den Vernichtungskrieg der faschistischen Wehrmacht gegen die Sowjetunion, an dessen Ziele, dessen Verantwortliche, dessen Folgen – und an die Befreier vom Faschismus.
Wir vergessen nicht:
- dass die deutschen Faschisten mit der Ausplünderung der Sowjetunion den Hungertod von 30 Millionen Menschen geplant hatten
- dass davon allein in Leningrad 1 Million Menschen betroffen waren
- dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Kriegstoten den höchsten Preis aller Völker für die Befreiung Europas vom Faschismus gezahlt hat
- dass von den über 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 3,3 Millionen in der Gefangenschaft umkamen. Diese Kriegsgefangenen waren nach den europäischen Juden die zweitgrößte Opfergruppe der Faschisten.
Und darum ging es:
- einen von Deutschland beherrschten Wirtschaftsraum bis zum Ural. Das hatte Hitler in »Mein Kampf« angedeutet und am 3. Februar 1933 vor den Befehlshabern von Reichswehr und Reichsmarine eindeutig benannt: »Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung.«
- am 16. Juli 1941 kündigte Hitler an, dass es darauf ankomme, den »riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können«. Im Kampf gegen Russland, so erklärte Goebbels im Sommer 1942, handele es sich um einen »Krieg für Getreide und Brot, für einen voll gedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch, […] um Gummi, um Eisen und Erze«.
- Die Ausbeutung der Sowjetunion sollte die materielle Basis für die deutsche Weltherrschaft sichern.
Für das Verständnis aktueller Ereignisse, die Beurteilung zutreffender oder nicht zutreffender Begründungen für den Krieg in der Ukraine dürfen wir auch nicht vergessen:
- es waren nicht deutsche Faschisten allein, die diese Verbrechen begingen. Euch ist bekannt, wer Stephan Bandera war, nach dem heute in der Ukraine Straßen benannt werden – ein Nazi-Kollaborateur.
- Nazi-Kollaborateure gab es auch in anderen Nationen – für die gegenwärtig z.B. in Lettland „Ehrenmärsche“ stattfinden
- die finnische Armee hatte Leningrad ab 1941 von Norden her blockiert.
Das alles darf nicht vergessen werden, wenn – hoffentlich bald – Verhandlungen über das Ende des Krieges in der Ukraine, den Status der Ukraine und eine europäische Sicherheits-Architektur stattfinden. Sicherheit in Europa gibt es nur für alle Staaten – unter Berücksichtigung ihrer Sicherheitsinteressen.
Wer vergisst, welchen Preis die Völker der Sowjetunion im letzten großen Krieg gezahlt haben, dass fast jede Familie Opfer zu beklagen hatte, wird kein Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands aufbringen können.
Aber: Verständnis für die Haltung der anderen Seite kann nicht erwartet werden, solange geschossen wird. Deshalb als Erstes: Die Waffen nieder! Dann hört das Sterben auf, dann bleiben die Häuser und Fabriken heil, dann kann die Ernte eingeholt, die Äcker bestellt werden.
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Friedensfreunde,
Wir erinnern daran, Krieg bringt nicht nur Tod und Zerstörung, es gibt auch Profiteure:
- Kriegsgewinnler sind die Rüstungsindustrie, die Rohstoffhändler und Nahrungsmittel-Spekulanten
- die Zechen zahlen die „kleinen Leute“, die ins Feuer geschickt werden, deren Wohnungen, Fabriken, Ländereien zerstört werden, die zur Kasse gebeten werden, damit Waffen, Granaten, Bomben bezahlt werden können.
Diese Erkenntnis war der Grund dafür, dass die Arbeiterbewegung vor über 100 Jahren ihre grundsätzliche Ablehnung des Krieges formuliert hat – und zu Beginn des ersten Weltkrieges doch einknickte und im nationalistischen Taumel die Volksinteressen über Klasseninteressen stellte.
Es waren die sozialistischen Frauen, die 1915 in der Berner Konferenz feststellten: „Nicht die Verteidigung des Vaterlandes, seine Vergrößerung ist der Zweck dieses Krieges! … Die Arbeiter haben durch diesen Krieg nichts zu gewinnen, wohl aber alles zu verlieren, was ihnen lieb und teuer ist.„
Hier, an den Gräbern von 1211 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, von Kriegsgefangenen aus 19 Nationen bekräftigen wir unsere Haltung:
- Deutschland hat eine historische Verantwortung gegenüber Russland, wegen seiner Kriegsopfer und als Dank für die Befreiung vom Faschismus.
- Die Sowjetunion ist nicht das Russland von heute, die Rote Armee ist nicht die russische Armee von heute.
- Wir, die Kommunistinnen und Kommunisten, die Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Friedensfreunde fordern nicht nur die Beendigung des völkerrechtswidrigen Krieges Russlands gegen die Ukraine. Wir fordern Beendigung der Waffenlieferungen an die Ukraine – Feuer löscht man nicht mit Benzin! Die Expansion der NATO muss beendet werden!
- Abrüstung statt Aufrüstung – das Geld brauchen wir für die Lösung der großen Menschheitsprobleme. Und diese sind nur in Zusammenarbeit der Völker zu lösen.
Was wären die Alternativen dazu?
Jahrelanger Krieg? Einsatz von Atomwaffen? Ungebremster Klimawandel mit den verheerenden Folgen? Weil ich nicht möchte, dass in nochmal 80 Jahren, Menschen an neuen Gräbern von Kriegsopfern Reden halten müssen:
„Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen,
damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde!
Lasst uns die Warnungen erneuern,
und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!
Denn der Menschheit drohen Kriege,
gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind,
und sie werden kommen ohne jeden Zweifel,
wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten,
nicht die Hände zerschlagen werden.„